25/08/2023
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Über die Werke der Ausstellung "Who by Fire: On Israel", Haus am Lützowplatz, Berlin (9. Juni – 27. August 2023). Texte des Kurators Liav Mirahi aus dem aus Anlass der Ausstellung publizierten Readers:
https://www.hal-berlin.de/wp-content/uploads/Who-by-Fire-Reader-dt-engl.pdf
11/12
Ariel Reichman (in collaboration with Jackie Grassmann)
The Wandering Jew, 2021
Tradescantia Zebrina stem, glass of water, dimensions variable
Courtesy PSM Gallery, Berlin. Copyright: Jackie Grassmann/Ariel Reichman.
Ariel Reichman
SumSum, 2022
Coloured pencil on paper (drawing) steel and terrazzo tile (sculpture) / Buntstift auf Papier (Zeichnung), Stahl und Terrazzo-Fliese (Skulptur)
31 × 31 cm / 46 × 31 × 31 cm
Courtesy PSM Gallery, Berlin. Copyright: the artist
Reichman arbeitet als interdisziplinärer Künstler, wurde in Südafrika geboren und ist als Teenager nach Israel eingewandert. Seit mehr als 15 Jahren lebt er mit Unterbrechungen in Berlin. Diese drei Länder, aus denen sich seine Biografie zusammensetzt – Südafrika, Israel und Deutschland –, sind ebenso in seinen Arbeiten miteinander verwoben. Dabei beschäftigt sich Reichman mit der Geschichte und den Störungen historischer Narrative, indem er durch einen Prozess der Freilegung zur Destillation in ein Objekt oder eine Handlung gelangt. Er erforscht seine eigene Biografie und seine Erinnerungen. Im Fokus steht dabei, wie er sich an sie erinnert, oder wie er glaubt, sich an sie zu erinnern, wobei er oft feststellt, dass die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion verschwimmen. Reichman strebt dabei nach einer reinen und ehrlichen Empathie für die „anderen“. In der Ausstellung Who by Fire: On Israel zeigt Reichman zwei unterschiedliche Werke. Bei der Sumsum-Serie handelt es sich um eine Kombination aus gerahmten Zeichnungen mit je einem vor der Wand stehenden Hocker, der zum Sitzen und Betrachten einlädt und eine jeweils unterschiedlich getönte Fliese als Sitzfläche hat. Diese Bodenplatten sind in Israel weit verbreitet und werden mit Bezug zum hebräischen Begriff für Sesam dort als „Sumsum-Fliesen“ bezeichnet. Die kolorierten Handzeichnungen von Ariel Reichman ahmen mit größtmöglicher Genauigkeit das Muster der jeweiligen Fliese nach, wobei für die Ausstellung drei Werke aus der Sumsum-Serie ausgewählt wurden. Der Fachbegriff für diese bestimmte Fliesensorte lautet Terrazzoplatte. Sie wurden in Israel bereits in den 1920er-Jahren unter britischem Mandat hergestellt; ihre Produktion war billig und einfach. Bis in die 1980er-Jahre waren diese Platten die am häufigsten verwendeten Fliesen im israelischen Bauwesen. Die „Sumsum-Fliese“ ist eine Art Schmelztiegel in Bezug auf Kultur und Design, zugleich symbolisiert sie die Einheit zwischen den Klassen in einem sozialistischen Wohlfahrtsstaat, denn man konnte sie praktisch in jedem Haus in Israel finden. Gleichzeitig haben diese Fliesen wie auch die Tätigkeit ihres Verlegens einen verborgenen Aspekt: Die Bauarbeiter waren in der Regel Araber, Palästinenser. Sie brachten die israelischen Fliesen in die Wohnungen und Häuser. Der hebräische Ausdruck „arabische Arbeit“ bezieht sich wiederum auf billige, unprofessionelle und sogar schlampige Arbeit. Mit der Sumsum-Serie schafft Reichman eine kulturelle, soziale und ästhetische Verbindung zwischen dem kulturell höher und dem geringer Geschätzten. Im Laufe der Jahre wurde der Stil der „Sumsum-Fliesen“ zunehmend als veraltet, dürftig, gar ärmlich angesehen und als solcher den benachteiligten Klassen zugeschrieben. Heutzutage erlebt diese Fliese wieder ein Revival in luxuriösen Wohnungen – eine Art ironisches Statement. Ein weiteres Werk von Ariel Reichman, das über die gesamte Ausstellung verteilt ist, heißt The Wandering Jew. An mehreren Stellen stehen Gläser mit Wasser auf dem Boden, die Teile einer Pflanze enthalten, die in Israel und in vielen anderen Gebieten der Welt als „Wandernder Jude“ bezeichnet wird. Der wissenschaftliche Name lautet Tradescantia; in Deutschland wird sie auch als „Zebrakraut“ bezeichnet, im Englischen sind dagegen „Spiderwort“ oder „Inch Plant“, Letzteres wegen ihres schnellen Wachstums, geläufig. Diese Pflanze schlägt leicht Wurzeln und kann sich an eine Vielzahl von Bedingungen und Standorten anpassen. Man findet sie in Israel in fast allen Gärten, wo sie wie von selbst und mit minimalem Pflegeaufwand wächst. Die Bezeichnung „Wandernder Jude“ ist dort außerdem vielfach positiv besetzt, da er auf unreflektierte Weise oft nur mit der Wanderung des hebräischen Stammes durch die Wüste Sinai assoziiert wird. Tatsächlich bezieht er sich aber auf das antisemitische Konzept des „Ewigen Juden“. Der Ursprung dieser Erzählung ist nicht geklärt, sie ist aber historisch mit einer Volkssage aus dem späten Mittelalter über einen jüdischen Schuster verbunden, der von Jesus zur unendlichen Wanderschaft und Unfähigkeit, einen Ort der Ruhe zu finden, verflucht wurde. Dieser Topos ist auf die Geschichte des jüdischen Volkes und seiner scheinbar ewigen Diaspora übertragen und dann auf bislang ungeklärte Weise mit dem Namen einer Pflanze verknüpft worden, deren vorherrschende botanische Eigenschaften Anpassungsfähigkeit, schnelles Wachstum und Genügsamkeit sind. Der Künstler erlaubt und wünscht es, die Setzlinge aus der Ausstellung mit nach Hause zu nehmen. Damit ermöglicht er dem „Wandernden Juden“, eine neue Heimat zu finden.
Ariel Reichman * 1979 in Johannesburg lebt und arbeitet in Berlin. Studium 2004–2008 an der Universität der Künste, Berlin, Klasse Hito Steyerl, sowie 2012–2014 an der MFA Bezalel Academy of Arts and Design, Jerusalem. Einzelausstellungen präsentierten jüngst der Kunstverein Heilbronn und der Kunstverein Arnsberg (2021), ferner die PSM Gallery, Berlin (2020, 2017, 2016, 2013, 2011), das Akershus Kunstsenter, Norwegen (2016), die Sommer Gallery, Tel Aviv (2015), CCA, Tel Aviv (2014), und das Petach Tikva Museum of Art (2013).
About the works in the exhibition "Who by Fire: On Israel", Haus am Lützowplatz, Berlin (June 9 – August 27, 2023). Texts by the curator Liav Mirahi from the reader published on the occasion of the exhibition:
https://www.hal-berlin.de/wp-content/uploads/Who-by-Fire-Reader-dt-engl.pdf
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Ariel Reichman (in collaboration with Jackie Grassmann)
The Wandering Jew, 2021
Tradescantia Zebrina stem, glass of water, dimensions variable
Courtesy PSM Gallery, Berlin. Copyright: Jackie Grassmann/Ariel Reichman.
Ariel Reichman
SumSum, 2022
Coloured pencil on paper (drawing) steel and terrazzo tile (sculpture) / Buntstift auf Papier (Zeichnung), Stahl und Terrazzo-Fliese (Skulptur)
31 × 31 cm / 46 × 31 × 31 cm
Courtesy PSM Gallery, Berlin. Copyright: the artist
Reichman is an interdisciplinary artist who was born in South Africa and immigrated to Israel as a young teenager. He has been living in Berlin with interruptions for more than fifteen years. The triad of countries composing his biography – South Africa, Israel and Germany – are interwoven in his works. Reichman deals with history and the disruption of historical narratives. He does so through a process of exposing and distilling the narrative into an eventual object or action. He researches his own biography and memories as he remembers them – or as he thinks he remembers them, often finding that the line between truth and fiction becomes blurred. Reichman’s endeavours are based on empathy for the ‘other’ in a pure and honest manner. In this exhibition, Reichman is showing two of his works. The Sumsum series is a combination of framed drawings and a stool in front of the wall that invites you to sit and watch, each with a differently toned tile as a seat. These floor tiles are widespread in Israel and are referred to there as Sumsum tiles, with reference to the Hebrew term for sesame. Ariel Reichman’s colored hand drawings mimic the pattern of the respective tiles with the greatest possible accuracy. Three works from the Sumsum series were selected for the exhibition. The technical term for this particular type of tile is „terrazzo“. They were manufactured in Israel as early as the 1920s under the British Mandate. Sumsum tiles were made in Israel since the 1920s under the British Mandate. Their production was cheap and simple. The tiles were the most commonly used in Israeli construction until the 1980s. Interestingly, the tile became a kind of melting pot in terms of culture and design, symbolizing a unity between classes in a socialist welfare state. You could find this style of tiling in every house in Israel. At the same time, these tiles – as well as the tiling activity in general – have a hidden aspect to them: the country’s construction workers are Arabs, Palestinians. They are the ones tiling apartments and homes with these oh-so-Israeli tiles. The Israeli saying “Arabic job” pertains to a cheap, unprofessional and even sloppy job. In this work, Reichman manages to create a cultural, social and aesthetic connection between the high and the low. Along the years, the Sumsum tiling style was viewed as outdated, meagre and even poor, and as such was attributed to the disadvantaged and transparent classes. Nowadays, the style is experiencing a revival in luxurious apartments as a kind of ironic statement. Another work, scattered around the exhibition, is The Wandering Jew. In several places there are jars of water on the ground, containing parts of a plant known in Israel and many other parts of the world as „Wandering Jew.“ The scientific name is Tradescantia, in Germany it is also known as “Zebra herb”. In English, the names “Spiderwort” or “Inch plant” are common, the latter because of their rapid growth. It is a plant that takes root easily and adapts to a wide variety of conditions and locations. It can be found in almost all gardens in Israel, growing independently and with minimal maintenance. The name “Wandering Jude” often has positive connotations there, since it is often unreflectively associated only with the migration of the Hebrews through the Sinai desert. In fact, however, it refers to the anti-Semitic concept of the “Wandering Jew”, in Germany more commonly known as “Eternal Jew“. The origin of this tale is unclear, but it is historically linked to a late medieval folk tale about a Jewish shoemaker who was cursed by Jesus to endless wandering and an inability to find a place of rest. This narrative was applied to the history of the Jewish people and their seemingly eternal diaspora, and then linked in a hitherto unexplained way to the name of a plant whose predominant botanical characteristics are adaptability, rapid growth, and frugality. The artist allows and wishes to take home the seedlings from the exhibition. This enables the „Wandering Jew“ to find a new home.
Ariel Reichman * 1979 in Johannesburg lives and works in Berlin. Studies 2004–2008 University of the Arts, Hito Steyerl class, 2012–2014 MFA Bezalel Academy of Arts and Design Jerusalem. Recent solo exhibitions include Kunstverein Heilbronn and Kunstverein Arnsberg (2021), PSM, Berlin (2020, 2017, 2016, 2013, 2011), Akershus Art Centre, Norway (2016), Summer Gallery, Tel Aviv (2015), CCA, Tel Aviv, Israel (2014), Petah Tikva Museum (2013).
The exhibition is on view until August 27, 2023.
With works by:
Durar Bacri, Michael Halak, Leon Kahane, Ariane Littman, Ella Littwitz, Avner Pinchover, Shlomo Pozner, Ariel Reichman, Fatma Shanan, Dina Shenhav, Relli de Vries, Amir Yatziv
Curated by Liav Mizrahi | in dialogue with Dr. Marc Wellmann